Beitrag
Susanne Vill:
Mit Worten komponieren als wären es Töne.
Zu Elfriede Jelineks Textstrukturen
Claude Lévi-Strauss schrieb seinen Bericht über die Reisen in Brasilien 1935–1938 und veröffentlichte das nach den Sätzen der Sonatenform und Symphonie gegliederte Manuskript 1955 unter dem Titel Tristes Tropiques. Theodor W. Adorno, der von sich sagte, er sei „der Fiber nach Musiker“[1], betitelte einige seiner Schriften über Musik mit Dissonanzen, Klangfiguren, Quasi una fantasia, Moments musicaux und Impromptus. Diese Titel schienen für ihn eine Art Auslöser für eine improvisierende, „musikalische“ Freiheit zu sein, so als hätte er sich in seinem, von Logik, strengen Strukturprinzipien und Formgesetzen geprägten Denken, das selbst in stundenlangen freien Vorträgen die Gesetze der Grammatik virtuos einhielt, einen Freibrief für ein freieres Sprechen ausstellen wollen. Der rasche Übergang von der freien Atonalität in die Dodekaphonie veranlasste ihn als Komponisten, im Vorwort der Ausgabe seiner Lieder zu schreiben: „Man sollte auch in der Musik einmal darüber nachdenken, warum die Menschen, sobald sie wirklich ins Offene kommen, das Gefühl produzieren: da muss doch wieder Ordnung her – anstatt aufzuatmen […]“[2]. Und Offenes als Aphorismen, Gedankensplitter und kurze Eindrücke wie die Notate im Skizzenbuch eines Komponisten finden sich ja auch in seinen Minima Moralia.
Elfriede Jelineks musikalische Ausbildung in den Instrumenten Klavier, Gitarre, Blockflöte, Violine, Viola, Orgel und das Kompositionsstudium verankerten Kenntnisse der musikalischen Formenlehre schon früh und tief in ihrem Bewusstsein. Die außerordentlich intensiven Musikstudien haben ihre Identität offenbar in den Zeiten größter Sensibilität für Prägungen stark geformt. Entscheidend für ihren musikalischen Ausdruck war zweifellos auch die Vor-liebe für die Orgel, ein Instrument, das strukturelles Musizieren erfordert und eine Disposition der musikalischen Ereignisse, die der Spieler, wie ein Dirigent das Spiel des Orchesters, zu gestalten hat. Die stets mit organisierendem Bewusstsein zu formende Musik des Organisten unterscheidet sich vom Musikerlebnis eines Sängers, der etwa im Wagner-Gesang nach der Forderung des Komponisten eine Selbstentäußerung vollziehen sollte und vor allem in freier Improvisation auch liminale Bewusstseinszustände erleben kann. weiterlesen
[2] Adorno, Theodor W.: Kompositionen. Bd. 1: Lieder für Singstimme und Klavier. Hg. von Heinz-Klaus Metzger und Rainer Riehn. München: edition text + kritik 1980, S. 7.
Susanne Vill Professorin für Musik-/ Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth, seit 2010 lehrt sie an der Universität Wien, bis 2015 am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, seit 2015 am Institut für Musikwissenschaft. Weiters ist sie als Sängerin und Regisseurin tätig. Sie hat zahlreiche Publikationen über Musiktheater, Gesang, Theater der Gegenwart, interkulturelles Theater und Medienperformances herausgebracht und hält weltweit Vorträge. Sie ist Mitglied der Int. School of Theatre Anthropology (ISTA) und der Europäischen Musiktheater-Akademie.
ZITIERWEISE
Vill, Susanne: Mit Worten komponieren als wären es Töne. Zu Elfriede Jelineks Textstrukturen. /intertextualitaet/susanne-vill-1 der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).