Unruhiges Wohnen

Komposition für das Zuspielband des Tanztheaters | Roman Haubenstock-Ramati
Sprecherin des Zuspielbandes: Elfriede Jelinek

Abdrucke des Librettos
ERSTDRUCK:
Unruhiges Wohnen. In: manuskripte 112 (1991), S. 7-9.

WEITERE ABDRUCKE:
In: Gerbel, Karl (Hg.): „Out of control“. ars electronica 1991. Linz: Veritas-Verlag 1991, S. 64-70.
In: Programmheft des Opernhauses Zürich zu Unruhiges Wohnen / Ikarus, 1991.
elfriedejelinek.com/fwohnen.htm (20.6.2017), datiert mit 1998 (= Elfriede Jelineks Website, Rubrik: Theatertexte).
In: Hammerstiel, Robert F. (Hg.): Glücksfutter. Heidelberg: Kehrer o. J., S. 6-9.
In: Edition Graz (Hg.): k ein haus. Szenischer Parcours in zehn Stationen. Wien: Sonderzahl 2013, S. 27-34.

Aufführungen
UA | 12.9.1991 Linzer Posthof (im Rahmen der ars electronica), Koproduktion der ars electronica und des Opernhauses Zürich; Choreographie, Bühnenraum, Kostüme und Licht: Bernd Roger Bienert; Projektionen, Bilder: Jürgen Messensee
WEITERE AUFFÜHRUNGEN:
14.5.1993 Opernhaus Zürich, Choreographie, Kostüme, Licht: Bernd Roger Bienert; Bilder: Jürgen Messensee
14.7.2005 Burgtheater Wien (Akademietheater) (im Rahmen des ImPuls Tanz Festivals), Choreographie, I und Video: Bernd Roger Bienert
SZENISCHE LESUNG:
13.5.2013 literatur haus graz (im Rahmen des Szenischen Abends k ein haus anlässlich des 10-jährigen Bestehens des Literaturhauses Graz), I: Danielle Strahm

Erstsendung des Zuspielbandes | ORF/Ö1 (im Rahmen der Reihe Kunstradio – Radiokunst), 12.9.1991


Jelinek verfasste den Text für das gleichnamige Tanztheater von Bernd Roger Bienert, das am Linzer Posthof im Rahmen der ars electronica 1991 uraufgeführt wurde. Der Text, der nicht auf Figuren aufgeteilt ist, hat einen realen Fall als Grundlage: ein Baby wurde von seinen Eltern an die Wand geschmissen, weil es beim Sex störte.
Der Text war bei der Uraufführung parallel zum Getanzten im originalen Wortlaut durch die Stimme der Autorin präsent: Der Komponist Roman Haubenstock-Ramati hatte für das Zuspielband eine Aufnahme, auf der Jelinek den Text liest, elektronisch bearbeitet und sie mit Geräuschen und harmonischen Klängen umgeben. Für Aufführungen in Zürich (1993) und Wien (2005) erarbeitete Bienert weitere Fassungen. Für die erste Fassung steuerte der Maler Jürgen Messensee großformatige Bilder bei, die als Projektionen auf im Raum verteilte weiße Flächen ins Bühnenbild integriert wurden.


Das Wort „Wohnen“ bedeutet bei Elfriede Jelinek „das Leben“. Das ganze Leben spielt sich eigentlich zu Hause ab. Also „unruhiges Wohnen“. „Unerträgliches Leben“. Direkt ist Jelineks Text mit der Musik nicht zu realisieren. Also kein Naturalismus. So gab es für mich nur die Möglichkeit, das Ganze zu poetisieren. Das, was geschieht, diese schreckliche Tat, das Zerschlagen eines Kindes hat etwas von einem Alptraum. Und genau diese Dimension öffnet einen Raum für den musikalischen Zugang. Zunächst also die Stimme und dazu einige poetisierende Klangschichten. Jelineks Stimme: ohne Espressivo, wie das Lesen eines Krankheitsbefunds.
Eine Diagnose: ganz kalt, nicht zu schnell, nicht zu langsam. Bestimmte Pausen zwischen den Sätzen. Dann der Versuch, mittels Elektronik, Computer und Synthesizer die Stimme zu verändern. Aufsplitterung der normalen Sprache in mehrere Schichten: wie von fern: ganz leise, dann multipliziert. Gewisse Sätze übereinandergesetzt, dann Klangveränderungen. Einerseits auf eine männliche, harte Sprache hinaufgesteuert, andererseits auf die Stimme des Kindes hinuntergesteuert.
Das gibt eine ganze Klangskala der Stimme, wobei ich sie quasi unterstreiche: durch Temporelationen, Schnitte, Rhythmisierungen, bis hin zu einem retrograden Ablauf der Sprache.
Wir haben also den Originalklang der Stimme mit verschiedenen Veränderungen, auch Verlangsamungen – das allein ergibt schon die Musik in sich selbst. Alles wird Musik: auch das Wort. Es ergeben sich Mehrstimmigkeiten: nicht nur Sätze, auch Worte werden zerschnitten und übereinander geschichtet. Die verschiedenen Stimmschichten sind schließlich umgeben von einer Hülle von Geräuschen und harmonischen Klängen, die zwischen secco, ganz secco und sehr, sehr weitem Hall liegen. Die Suche nach einer „richtigen“ Musik resultiert schließlich im Versuch, der Sprache harmonische Klangwelten gegenüberzustellen. Zwei lange computergesteuerte Klangschichten. Das alles für eine Kontinuität von 50 Minuten.
Aspekte des Traums: die Verwandlung der Stimme in männlich/kindlich ist gemeinhin nur vorstellbar wie innere Stimmen im Traum, aber daraus entwickelt sich nun eine Kunst-über-Kunst-Relation zu einer schrecklichen Sache, die umhüllt wird in eine Form, die diesen Prozeß am Rande der Unerträglichkeit zum Schluß als Teil des Lebens erträglich machen soll. Kunst ist im Grunde dazu da, das Leben erträglich zu machen. Und: es ist eine Art Sehnsucht in diesem musikalischen Ganzen. Eine Sehnsucht nach Ruhe. Auch nach einem Kind.

Roman Haubenstock-Ramati: „Unruhiges Wohnen“. In: Gerbel, Karl (Hg.): „Out of control“. ars electronica 1991. Linz: Veritas-Verlag 1991, S. 71-72.

aus: Janke, Pia: Elfriede Jelinek. Werk und Rezeption. Teil 1. Wien: Praesens Verlag 2014 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 10), S. 270-271.


ZITIERWEISE
Unruhiges Wohnen. /libretti/unruhiges-wohnen/information/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).