Irene SuchyDie Komponistin Elfriede Jelinek

Drei Lieder Elfriede Jelineks sind unveröffentlicht im Autograph von ihr erhalten: zwei auf eigene Texte, und zwar Klage, datiert als Komposition 1965, und meine liebe, komponiert 1966, sowie eines auf einen Text François Villons in der Nachdichtung Paul Zechs, möglicherweise ihr letztes Opus, ebenfalls komponiert 1966. Es ist Die Ballade von Villon und seiner dicken Margot. Jelinek nennt die Komposition mit einem Vor-Titel auf einem Deckblatt Kennwort: Villon. Der Text ist entnommen dem Band: Die lasterhaften Balladen und Lieder des François Villon. Freie Nachdichtung Paul Robert Zech, 1931 bzw. 1962. Das Wort dick kommt in dieser Ausgabe nicht vor, in der Internet-Ausgabe aber schon. Die Literaturwissenschaft hat inzwischen mehrfach nachgewiesen, dass Paul Zech dieses Gedicht wie viele andere selbst gedichtet und keineswegs nachgedichtet hat. Im Manuskript des Liedes jedoch äußert die Komponistin keinen Zweifel an der Autorschaft Villons. Zech hat sich jedenfalls als Fritz Kreisler der Villon-Balladendichtung und auch als dessen Biograph verdient gemacht.
Dass die Komponistin Lieder wählt, stellt sie in eine Tradition der weiblichen Musikschaffenden, die sich mit dem Lied eine gewisse Aufführbarkeit sichern. Fanny Mendelssohn-Hensel, auf die sich Jelinek bezieht, komponierte vier Liedgruppen in vier gesonderten Opus-Zahlen. Über Fanny Mendelssohn-Hensel, die Schwester Mendelssohns, die ihrem Bruder Teile ihrer Kompositionen (und oft auch ganze Werke!) abzutreten hatte und ihre Werke nur in privatem Kreis, bei Hauskonzerten, hören durfte, kann man nicht sprechen, ohne über ihr Leben, über das sie in ihrer Kunst nicht hinausgekommen ist, zu sprechen. Clara Schumann – die in Clara S. zum literarischen Gegenstand einer Musikalischen Tragödie geworden ist – hat ihre Werkgruppen op. 12, 13, 23 und eine weitere ohne Opus-Zahl dem Lied gewidmet. Auch wenn das Lied in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine ungeliebte Gattung geworden ist: Das Lied steckt den Rahmen ab, wie weit der Arm der Komponistin reicht, wie weit ihre Stimme trägt. Vom Klavier in den Salon, nicht weiter: weder in den Konzertsaal noch in ein Verlagshaus. Das Frauenzimmer bleibt der Raum. Das Verbot von Fannys Vater, ihre Werke jemals drucken zu lassen, ist jetzt gar nicht mehr notwendig. Kein Verlag hat sich auch im Zuge größter Ehrungen und internationaler Popularität dazu aufgerafft, Jelineks Lieder zu drucken. Sie ist keine Komponistin geworden. weiterlesen

aus: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: ICH WILL KEIN THEATER. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums 3), S. 377-387. 


Irene Suchy Musikredakteurin bei Ö1, lehrt an der Universität Wien und an der KUG Graz; außerdem arbeitet sie als Ausstellungsmacherin, Moderatorin, Dramaturgin und Literatin. 2016 erarbeitete sie zusammen mit Michael Mautner die Bühnenfassung zu Staatsoperette. Die Austrotragödie, eine Bearbeitung der Staatsoperette von Franz Novotny und Otto M. Zykan, die bei den Bregenzer Festspielen uraufgeführt wurde.


ZITIERWEISE
Suchy, Irene: Die Komponistin Elfriede Jelinek. /kompositionen/ueber-die-kompositionen/irene-suchy-1/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).