Der tausendjährige Posten oder Der Germanist

Libretto-Vorlagen
Der vierjährige Posten (D 190), Ein Singspiel in einem Aufzuge von Theodor Körner, Musik von Franz Schubert, 1815; Die Zwillingsbrüder (D 647), Singspiel in einem Akt, nach dem Französischen von Georg Ernst v. Hoffmann, Musik von Franz Schubert, 1819

Komposition
| Franz Schubert (Originalmusik der beiden Singspiele)

Personen
Prof. Dr. Hans Schall / SS Hauptsturmführer Schaal, ein aufrechter alter Mann (Tenor); Lieschen Schall, seine Frau (Sopran); Prof. Dr. Walther Spieß, ein älterer Herr, berstend vor Tatendurst (Bass); Ulrich Viet, ein etwas lethargisch wirkender Journalist, typischer Veteran der Studentenbewegung, hält äußerlich immer noch an den alten Gebräuchen der 68er fest (Tenor); Prof. Dr. Schulze, ein Freund in mittleren Jahren (Bass); ein paar Nebenfiguren, z.B. Trude, Frau Schalls Freundin, etc., Chor.

Orchester
2 Flöten, 2 Oboen, 2 Klarinetten, 2 Fagotte, 2 Hörner, 2 Trompeten, Pauken, 8 erste Violinen, 6 zweite Violinen, 4 Bratschen, 3 Violoncelli, 2 Kontrabässe.

Veröffentlichung des Librettos
www.elfriedejelinek.com/fposten.htm (25.8.2017), datiert mit 1.12.2003 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2003, Theatertexte).

Aufführungen
UA | 10.3.2012 Theater und Orchester Heidelberg (Heidelberger Opernzelt), I: Andrea Schwalbach, ML: Dietger Holm


Jelinek schrieb das Libretto, das auf den beiden Schubert-Singspielen Der vierjährige Posten und Die Zwillingsbrüder beruht, gemeinsam mit Irene Dische. Dische hat die beiden Werke miteinander kombiniert, Jelinek Disches englische Dialog-Fassung ins Deutsche übertragen. Von Jelinek stammt auch, unter Verwendung von Passagen des Originaltextes, die Bearbeitung der Gesangsnummern. Die Abfolge der musikalischen Nummern aus den Schubert-Singspielen ist durchwegs beibehalten, die Werke sind so miteinander kombiniert, dass vor dem Finale des Vierjährigen Posten die Nummern der Zwillingsbrüder eingeschoben werden.
Die Handlungen sind travestiert und werden mit dem realen Fall des Germanisten Hans Ernst Schneider (1909-99) zusammengebracht, der zwischen 1939 und 1945 wissenschafts-und kulturpolitisch für die SS, insbesondere für das „Ahnenerbe“, arbeitete und u.a. für die Auflösung jüdischer Bibliotheken in Polen zuständig war. 1945 legte er sich als Hans Schwerte in Deutschland eine neue Existenz zu und begann eine Karriere als links-liberaler Literaturwissenschaftler, 1995 flog seine Doppelexistenz aufgrund von Recherchen des niederländischen Fernsehens auf. In Disches und Jelineks Libretto wird gezeigt, dass Prof. Dr. Hans Schall (wie Schwerte im Stück heißt) sein vermeintliches Hauptwerk Der Ursprung der deutschen Komödie auf der Grundlage eines während des Kriegs aus dem Salon eines jüdischen Intellektuellen geraubten Manuskriptes veröffentlichte.
Wie u.a. Jelineks Theatertexte Wolken.Heim. oder Totenauberg thematisiert auch dieses Stück die Verdrängungsmechanismen im Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Verantwortung der Intellektuellen für die Verbrechen in dieser Zeit.


Schall (ruhig): Ich habe Hans Schaal gekannt. Natürlich. Er hatte am selben Tag Geburtstag wie ich, er ist im selben Dorf wie ich auf die Welt gekommen, und beide erhielten wir den Namen Hans. Aber Hans Schaal ist tot. Er starb am letzten Kriegstag. Man hat sogar gesehen, wie er erschossen wurde. Sein Leichnam wurde niemals gefunden, aber er ist tot. Wir sollten die Toten in Frieden ruhen lassen, Lieschen. Ich bin fertig, wir können gehen. Walther, du erzählst ihnen, daß du Hans Schall damals gekannt hast und daß er kein Freund der Nazis gewesen ist. Innere Emigration und so weiter und so fort. Namen sind ohnehin Schall und Rauch.

Walther: Nein, nein. Jetzt müssen wir schon eine neue Taktik finden, mein lieber Hans. Du mußt dich zu allem bekennen. Du mußt dich dem stellen. Du mußt Bedauern zeigen. Wolle den Wandel, wie Rilke sagt! Aus dem SS-Mann Schaal wurde der Demokrat Schall. Du bist ein anderer geworden! Das ist wie mit dem guten und dem bösen Zwilling. Es war Schaal, der es war! Nicht du! Er wars! […]

Lieschen: Ich hatte gehört, er sei tot. Die Roten hätten ihn erschossen. Ich zog ein schwarzes Kleid an. Ich verlor jedes Interesse an meinem Kind. Ich verwandelte mich in eine Säule aus salzigen Tränen. Und dann klopfte es an der Tür. Ich öffnete. „Darf ich mich vorstellen: Hans Schall“, sagte er. Er war in Zivil. Mein Liebster! Sein Haar hatte er tagelang nicht mehr gekämmt. Wir mußten uns eben daran gewöhnen. Schalll, nicht Schaaal! Ja, seine Identität zu wechseln, das ist wahrlich kein Honiglecken.

3. Szene: Terzett:
Mag dich die Hoffnung nicht betrügen!
An diesen Glauben halte dich!
Das Glück war gar zu schön gestiegen!
Die Wende war zu fürchterlich,
die Wende war zu fürchterlich!
Mag dich die Hoffnung nicht betrügen!
An diesen Glauben halte dich!
etc.

aus: Elfriede Jelinek: Der tausendjährige Posten oder Der Germanist. http://www.elfriedejelinek.com/fposten.htm (25.8.2017), datiert mit 1.12.2003 (= Elfriede Jelineks Website, Rubriken: Archiv 2003, Theatertexte).

aus: Janke, Pia: Elfriede Jelinek. Werk und Rezeption. Teil 1. Wien: Praesens Verlag 2014 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 10), S. 268-269.


ZITIERWEISE
/libretti/der-tausendjaehrige-posten/informationen/(Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).