Lost HighwayMusiktheater

Auf dem Lost Highway durch eine „nuit sans fin“,
wo Zeit und Raum wird, wo alles endet und alles anfängt…

„La création poétique, c’est la création de l’attente“
(Paul Valery)

„Die Macht der Verkleidung ist auch die der Missverständnisse und der steten Enttäuschung“
(nach Sacher-Masoch)

Motti der Partitur

Libretto-Vorlage
Das Drehbuch zum Film Lost Highway (1996), Buch: David Lynch, Barry Gifford; Regie: David Lynch; Produktion: CiBy 2000, Asymmetrical Production. Dauer: 135 min

Komposition | Olga Neuwirth (2003)

Personen
Pete (hoher Bariton); Fred (Schauspieler; Muttersprache Englisch); Alice / Renee (Sopran); Mr. Eddy / Dick Laurent (Sänger / Schauspieler / Improvisationsmusiker; Muttersprache Englisch); Mystery Man (Countertenor); Andy (Countertenor); Mutter von Pete (Schauspielerin, die auch singen kann); Vater von Pete (Schauspieler, der auch singen kann); Wärter / der Detective Lou (klein und etwas dicklich; Schauspieler, der auch singen kann); Arzt / der Mann / der Detective Hank (groß und dünn; Schauspieler, der auch singen kann); Gefängnisdirektor, Arnie (Schauspieler).

Orchester
6 Solisten: Sopran-Saxophon (auch: Tenor-Saxophon, Bariton-Saxophon), Klarinette in B (auch: Bassklarinette und Kontrabassklarinette), Tenor-Posaune mit Quartventil (auch: Alt-Posaune und Bassposaune mit Quartventil), E-Gitarre mit Scordatur (auch: Hawaii-Gitarre mit Scordatur), Akkordeon, Keyboards, 2 Flöten (auch: 2 Piccolos, 2. Flöte: diatonische Mundharmonika in d), Oboe (auch: diatonische Mundharmonika in cis), Klarinette 1 in B (auch: Klarinette in Es), Klarinette 2 in B (auch diatonische Mundharmonika in es), Fagott (auch: Kontrafagott und diatonische Mundharmonika in d), Trompete 1 in C (auch:
kleine Trompete in Hoch B), Trompete 2 in C, Horn in F, Tenorposaune mit Quartventil, Tuba, 2 Schlagwerke, Violine 1 mit Scordatur, Violine 2, Viola, Violoncello 1, Violoncello 2 mit Scordatur, Kontrabass (5-saitig) (auch: e-baß mit Wah-Wah-Effekt und Scordatur), 1-2 Tontechniker, die Partitur lesen können, 3 Mikrophone im Off, ein Sampler, der vom Dirigenten betätigt wird, Live-Elektronik, Bänder/CD-Player.

Abdruck des Librettos
ERSTDRUCK:
In: Programmheft des steirischen herbstes zu Olga Neuwirths Lost Highway, 2003.

WEITERE ABDRUCKE:
In: Hochradl, Karin: Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Salzburg: Peter Lang 2010 (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung 4), S. 797-852.
In: Hochradl, Karin: Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Salzburg: Peter Lang 2010 (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung 4), S. 797-852. (Frühere Fassung)
In: Hochradl, Karin: Olga Neuwirths und Elfriede Jelineks gemeinsames Musiktheaterschaffen. Salzburg: Peter Lang 2010 (= Salzburger Beiträge zur Musik- und Tanzforschung 4), S. 797-852. (Fassung in der Partitur)

Aufführungen
UA | 31.10.2003 Helmut-List-Halle, Graz (im Rahmen des steirischen herbstes), Koproduktion des steirischen herbstes, des Theaters Basel und Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas, I: Joachim Schloemer, ML: Johannes Kalitzke
Erstsendung eines halbstündigen Radiomitschnitts der Grazer Produktion: ORF/Ö1 (im Rahmen der Reihe Zeitton), 11.11.2003
WEITERE INSZENIERUNGEN:
8.2.2007 Oberlin Conservatory of Music, Ohio, I: Jonathon Field, ML: Timothy Weiss
4.4.2008 English National Opera (Young Vic Theatre), London, I: Diane Paulus, ML: Baldur Brönnimann

CD-Produktion
Neuwirth, Olga: Lost Highway. CD. Wien: KAIROS 2007.
2007 Würdigung der Produktion mit dem Diapason d’Or


Lost Highway
war ein Auftragswerk des steirischen herbstes 2003. Jelinek erarbeitete das Libretto, das in zwei Teile gegliedert ist, gemeinsam mit Olga Neuwirth. Das englische Drehbuch des Films Lost Highway bildete die Grundlage. Jelinek und Neuwirth betonten in ihrer Bearbeitung die Elemente des Psycho-Thrillers, des Film Noir und des Horrorfilms. Sie griffen die Albträume, Phantasmen, Halluzinationen, Obsessionen, die Rätselhaftigkeit und A-Logik des Geschehens auf und fokussierten die Themen Gewalt und Verbrechen. Sie behielten die englische Sprache bei. Das Drehbuch wurde gekürzt, Szenen und Nebenfiguren fielen weg. Jelinek fügte eine
Passage, die P. J. Blumenthal ins Englische übersetzte, hinzu: die Szene, in der Mr. Eddy einen Mann, der das Rauchverbot nicht beachtet, zur Rede stellt und ihn – aus Sauberkeitswahn – brutal zusammenschlägt.
Eine Neuerung ist auch die, parallel zu den Dialogen verlaufende, in deutscher Sprache beschriebene Video-Ebene, die komplexe Raum/Zeit- und Bewusstseinsstrukturen ermöglichen soll. Bei der Uraufführung sollte VALIE EXPORT diese Video-Ebene realisieren, was jedoch nicht zustande kam. Die Uraufführung verzichtete völlig auf die Video-Ebene.


Ich kann zum Rätsel „Highway“ nur wenig sagen, weil es ja ein Rätsel ist und auch sein soll. Und bleiben muß. Es findet, ich weiß ja auch nicht wie, ein seltsamer Vorgang statt, und zwar daß man aus dem symbolischen Bewußtsein im Film eine Art reines Bewußtsein extrahiert und das dann wieder auf eine symbolische Ebene, aber eine andere, die der Oper, des Musik-Theaters, transportiert, eher: transponiert. Es ist ein doppelter Bruch von etwas, das selbst schon mehrfach gebrochen und umgewandelt ist. Ich persönlich kenne mich in diesem Vexierspiel selbst nicht mehr aus. Ich habe ja für dieses Libretto nicht einen realen Stoff gewählt, sondern die Realität des Bewußtseins eines Künstlers bzw. zweier Künstler (Lynch, Gifford), also die Realität einer Realität einer Realität. Ich weiß in diesem Fall selbst nicht, was ich geschrieben habe, weil ich ja schon die Vorlage als einen Boden betrachte, der bereits zerbrochen war, bevor ich überhaupt noch meinen Fuß drauf setzen konnte.
Meine Arbeit ist ein Rückzug vor dem Realen, den aber Lynch und Gifford selber schon längst vollzogen haben. Sobald etwas real Gesetztes erscheint, wird es sofort in Frage gestellt. Der Film, der ja das sichtbare Vergehen von Zeit ist, kann das zeigen, indem er ist was er ist. Die Musik, die das hörbare Vergehen der Zeit ist, läßt sich als einziges Medium dagegen setzen, als Medium, das sich auch behaupten kann. Das wäre z.B. mit einem Theaterstück, das man nach diesem Film verfassen wollte, absolut unmöglich. Das Theater wäre kein angemessener Ort dafür, es könnte nur hechelnd hinterher jagen. Und dabei kann es sich doch überhaupt nicht bewegen, das arme Ding! […]
Ich habe nicht versucht, diese Nicht-Geschichte zu interpretieren, denn es liegt im Wesen dieser Reduktion, daß Interpretation eben nicht möglich ist. Die Grenzen scheinen am Anfang des Films in der Tat sehr klaustrophobisch-eng zu sein, sie werden noch viel enger nach dem Mord, als der Protagonist in der Todeszelle landet, die außer dem Grab das Engste ist, was man sich vorstellen kann. Zeit und Raum sind zu einem leuchtenden Strich zusammengeschoben, also, wie gesagt: reduziert, aufs Äußerste reduziert, wie der Tod das Leben zunichte macht, die absolute Reduktion selbst ist, und plötzlich öffnet sich diese zerknüllte Papiertüte bzw. der leuchtende Strich weitet sich, fächert sich auf, und die eigentliche Handlung, jenseits jeder Logik und Erklärungsmöglichkeit, beginnt von neuem, beginnt nun erst richtig, wird aus der Tüte herausgeschleudert, obwohl die Tüte samt Inhalt doch soeben noch dermaßen klein zusammengeknüllt war. Oder war gar nichts drin? Es beginnt sozusagen ein zweites Leben nach dem ersten, oder war das zweite vor dem ersten, oder doch umgekehrt? Im Film ist das möglich. In der Kunst kann es möglich werden, sonst nirgendwo.

aus: Elfriede Jelinek: Gespenstersehen. In: profil, 27.10.2003.

Olga Neuwirth verarbeitete Teile von Lost Highway zu eigenständigen Werken weiter:

Suite aus „Lost Highway“.
UA | 1.10.2004 Palais de Fêtes, Straßburg (im Rahmen des Festival Musica), ML: Johannes Kalitzke
WEITERE AUFFÜHRUNG:
31.10.2004 Konzerthaus Wien (im Rahmen von Wien Modern), ML: Johannes Kalitzke

Lost Highway Suite. (revidierte Fassung)
UA | 25.11.2008 Cité de la Musique, Paris, ML: Stefan Asbury
WEITERE AUFFÜHRUNGEN:
30.11.2008 Radialsystem V, Berlin, ML: Stefan Asbury
7.9.2012 Operaen, Oslo, ML: Sian Edwards

aus: Janke, Pia: Elfriede Jelinek. Werk und Rezeption. Teil 1. Wien: Praesens Verlag 2014 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 10), S. 265-268.


ZITIERWEISE
Lost Highway. /libretti/lost-highway/information/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).