Bernd R. BienertJelinek tanzt

Als Elfriede Jelinek vor einigen Jahren vom Schauspielchef Ivan Nagel zu den Salzburger Festspielen als „Dichterin zu Gast“ eingeladen war, stellte sie diese Zeilen Elfriede Gerstls ihrer „residence“ voran.
Um es ein bisschen jelinekisch zu sagen: Bei Elfriede Jelinek war ich zwar nie zu hause, sie war viel mehr schon immer in mir zu hause. Dass ich Elfriedes Texte beim ersten Lesen genießen konnte und damit nie ein Problem hatte, könnte daher kommen, dass ich, was nahe liegend wäre, Geburtsort-spezifisch ähnlich kodiert bin. Wir sind beide in Wien groß geworden, der lebendigen Hauptstadt der Unfreundlichkeit.
Wie ich hat auch Elfriede sich früh in ihrer Freizeit mit dem Studium der klassischen Musik und des klassischen Tanzes befasst und wie ich im Tanz-Studio von Lucia Bräuer, einer ehemaligen Ballett-Solistin der Wiener Staatsoper, klassisches Ballett trainiert. Dort, im damals noch unrenovierten Wiener Konzerthaus, innerhalb der heute nicht mehr existierenden Gesellschafts-Tanzschule Fränzl, unterrichtete „Tante Lucie“, wie sie von ihren SchülerInnen genannt wurde, zusammen mit ihrem Mann, dem ehemaligen Solotänzer der Wiener Staatsoper Willy Fränzl, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter Richard Strauss die Hauptrolle der Wiener Erstaufführung in dessen Ballett Josephslegende getanzt hatte. Wo sich heute die Küche des Restaurants befindet, war in jener Zeit das kleine Ballettstudio mit Blick auf den Wiener Eislaufverein und nebenan – im heutigen Speisesaal – die Gesellschaftstanz-Schule von Herrn Fränzl. Schon in der Zeit unseres ersten Zusammentreffens stand dem Menschen Jelinek, so wie ich ihn kennen gelernt hatte, eine Titelbildstory des Stern gegenüber: „Elfriede Jelinek ans Bett gefesselt. – Mit Trümmerfrauen- Frisur.“
Von Darstellungen der Schriftstellerin Jelinek in Medien und der breiten Öffentlichkeit sollte ich seitdem noch öfter irritiert werden, denn das mir dort vermittelte Bild stimmte für mich mit dem, das ich mir von der Dichterin gemacht hatte, überhaupt nicht überein. Ich war bei privaten Gesprächen mit ihr beeindruckt von Elfriedes großer Offenheit und freundschaftlicher Natürlichkeit. Ich empfand das als eine echte menschliche Größe. Immer wieder wurde ich gefragt, und ich muss sagen, je näher zum Nobelpreis hin, desto nerviger wurden für mich diese Fragen: „Wie finden Sie denn ihre Texte?“ und „Wie ist sie denn so?“. Zuletzt erst vor wenigen Tagen wieder solche Fragen. Dabei dachte ich, das Thema wäre bereits längst „gegessen“. Man kommt sich bei so unangenehm-persönlichen Auskünfteleien ja vor, als würde man etwas Intimes ausplaudern, das im Grunde genommen niemand etwas angeht, der außerhalb steht, oder auch wie ein da Ponte, der in seinen Memoiren über den berühmten Casanova erzählt. weiterlesen

aus: Janke, Pia (Hg.): Elfriede Jelinek: „ICH WILL KEIN THEATER“. Mediale Überschreitungen. Wien: Praesens Verlag 2007 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 3), S. 423-434.


Bernd Roger Bienert Tänzer, Choreograph, Ballettdirektor, Regisseur und Bühnenbildner. 1978 bis 1985 Tänzer an der Staatsoper Wien und am Nederlands Dans Theater. Arbeiten für die Wiener Staatsoper, die Salzburger Festspiele, die Ars Electronica, die Deutsche Oper Berlin, das Opernhaus Zürich und das Wiener Burgtheater. Er ist Universitätslektor am Institut für Theaterwissenschaften an der Universität Wien. Seit 2011 Intendant des Festival Teatro Barocco im Stift Altenburg und Laxenburg. Im März 2017 Premiere von Cosi fan tutte und Piramo e Tisbe in Schloss Laxenburg.


ZITIERWEISE
Bienert, Bernd R.: Jelinek tanzt. /libretti/unruhiges-wohnen/bernd-r-bienert/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).