Susanne VillVon Rheingold zu Rein Gold

Intertexte aus Richard Wagners Der Ring des Nibelungen in Elfriede Jelineks Bühnenessay

Wenn du geredet hättest, Desdemona, Chistine Brückners Ungehaltene Reen ungehaltener Frauen von 1983 legten Othellos Mordopfer und anderen, meist im Schatten berühmter Männer schweigenden Frauengestalten der Literatur, wortreiche Argumentationen in den Mund, um ihnen quasi posthum noch zu ihrem Rederecht zu verhelfen. Rechtfertigungen, Korrekturen der traditionellen Bilder von Geschlechterverhältnissen, Nivellierungen der Leistungen von Männern, die nur allzu oft die Inspirationen, Ideen, Zuarbeiten ihrer Partnerinnen unbenannt fürs eigene Werk usurpierten, üben feministische Aufarbeitungen, Komplettierungen von ideologisch selektierter Figurenrede durch die übergangene weibliche Perspektive fort, konfrontierte die männliche Sicht der Verhaltensnormen mit dem verschwiegen Absorbierten und mit den in Konventionen unterdrückten alternativen Optionen von Frauen. Dramen und Opern sind voll von Frauengestalten, denen nicht zugehört und schon gar nicht geglaubt wird, wenn sie etwa ihre Unschuld verteidigten so wie Desdemona. Über sie wurde verfügt, sie hatten sich dem zu fügen, was über sie verhängt wurde, gerecht oder ungerecht.

Die Aburteilung, die in Richard Wagners Der Ring des Nibelungen Wotan an Brünnhilde vornimmt, reizt zu heftigem Widerspruch. Der Empörung über seine, mit kasuistischer Pseudojustiz kaschierte Willkür verleiht Elfriede Jelinek die denkbar wortreichste Redegewalt. 

Kritik an Wotan, den Wagner als „die Summe der Intelligenz der Gegenwart“[1]  konzipierte, haben in den fast 140 Jahren seiner Bühnenexistenz zahlreiche Autoren und Regisseure geübt, doch niemand wie Jelinek so explizit und mit imaginierter Selbstrechtfertigung der Bühnenfigur im Umfeld des Bewusstseinshorizonts der heutigen Gegenwart. Die Verschmelzung der Horizonte der Mythengestalten samt ihren religionsgeschichtlichen Wirkungsbereichen mit dem Horizont der ProtagonistInnen von Wagners Tetralogie und dem Horizont von deren Rezeptionsgeschichte ergibt ein trübes semiotisches Feld, in dem sich die Bedeutungen der Intertexte immer weiter verästeln und verrätseln. weiterlesen

[1] Wagner, Richard: Brief an August Röckel, Waldheim, Zürich, 25./26. I. 1854. In: Wagner, Richard: Werke, Schriften und Briefe. Hg. von Sven Friedrich. Berlin 2004 (= Digitale Bibliothek 107), S. 11464.

aus: JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2013, S. 73-89.


Susanne Vill Professorin für Musik-/ Theaterwissenschaft an der Universität Bayreuth, seit 2010 lehrt sie an der Universität Wien, bis 2015 am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft, seit 2015 am Institut für Musikwissenschaft. Weiters ist sie als Sängerin und Regisseurin tätig. Sie hat zahlreiche Publikationen über Musiktheater, Gesang, Theater der Gegenwart, interkulturelles Theater und Medienperformances herausgebracht und hält weltweit Vorträge. Sie ist Mitglied der Int. School of Theatre Anthropology (ISTA) und der Europäischen Musiktheater-Akademie.


ZITIERWEISE
Vill, Susanne: Von „Rheingold“ zu „Rein Gold“. Intertexte aus Richard Wagners „Der Ring des Nibelungen“ in Elfriede Jelineks Bühnenessay. /intertextualitaet/zu-werken/susanne-vill/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).