Gerhard ScheitWer lacht? Anmerkungen zur Inversion der Komik in Raststätte und Bählamms Fest

In den 1960er Jahren veranstaltete Theodor W. Adorno am Frankfurter Institut für Sozialforschung ein Lach-Seminar: 


Die Studenten sollten bestimmte Situationen unmittelbar beobachten. Deren präzise Beschreibung und Versuche zur Interpretation sollten verdeutlichen, daß, wo mehrere Menschen zusammen lachen oder feindselig aneinander geraten, soziale Momente sich ausdrücken, die über den direkten Anlaß hinausgehen, zuweilen in diesem sich verstecken. Mit der, wenn man will, pädagogischen Absicht verband sich das sachliche Interesse an der gesellschaftlichen Relevanz scheinbar individueller Aggression. Sie wurde als Konstituens des Lachens vorausgesetzt und durch die Analyse der Beobachtungen oft bestätigt. [1]

Die Übung sollte damit, so Adorno weiter, „zur Entwicklung jenes bösen Blicks“ dienen, „ohne den kaum ein zureichendes Bewußtsein von der contrainte sociale zu gewinnen“ [2] sei. Eine dieser Alltagssituationen wird von Adorno so charakterisiert: „Einer redet mit einem Betrunkenen und sucht zugleich, durch Einverständnis heischendes Lächeln, das er an andere richtet, von jenem sich zu distanzieren. Unterwürfig nimmt er die mögliche Mißbilligungmmt er seiner Humanität vorweg.“[3]
Der böse Blick, der hier entwickelt werden sollte, richtet sich nicht auf den Gegenstand des Lachens, sondern aufs Lachen selbst bzw. die Lachenden und widerspricht darin weithin bekannten Theorien, die sich meist auf Henri Bergsons Essay Le Rire stützen. Tatsächlich sei, so Adorno, das Lachen, in dem Bergson zufolge Leben gegenüber seiner konventionellen Verhärtung sich wiederherstellen soll, längst zur Waffe der Konvention gegen das unerfasste Leben, gegen die Spuren eines nicht ganz domestizierten Natürlichen geworden.4 Es restituiere nicht das Leben gegenüber seinen Verhärtungen, sondern befestige sie noch – nur dass es beim Lachen die des Kollektivs sind, das den Einzelnen ausstößt. weiterlesen

aus:  JELINEK[JAHR]BUCH. Elfriede Jelinek-Forschungszentrum 2013, S. 259-270.


Gerhard Scheit: Studium der Musik, Theaterwissenschaft, Germanistik, Philosophie und Musik an den Universitäten Wien und Berlin. Lebt als freier Autor und Essayist in Wien. Arbeiten u.a. zur kritischen Theorie und der Ästhetik in der Moderne. 2012 gründete er zusammen mit Manfred Dahlmann die Zeitschrift für Ideologiekritik sans phrase. 2016 erhielt Gerhard Scheit zusammen mit Stefan Horvath den Theodor-Kramer-Preis. Bücher u.a.: Quälbarer Leib. Kritik der Gesellschaft nach Adorno (2011), Kritik des politischen Engagements (2016), Im Ameisenstaat: Von Wagners Erlösung zu Badious Ereignis (2017).


ZITIERWEISE
Scheit, Gerhard: Wer lacht? Anmerkungen zur Inversion der Komik in Raststätte und Bählamms Fest. /libretti/baehlamms-fest/gerhard-scheit/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).