Till Gerrit Waidelich & Susana ZapkeLiterarisierung von Musik

Jelineks Burgtheater

Susana Zapke: Elfriede Jelinek hat am Wiener Konservatorium, heute Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien (MUK), von 1960 bis 1970 Orgel, Klavier und Komposition studiert. Sie hat eine klassische Ausbildung erhalten und den Kanon der Musikgeschichte mitbekommen. Relativ früh hat sich jedoch ihr Interesse für neue Formen der Experimentalkunst, neue Ausdrucksformen der Musik des 20. Jahrhunderts und vor allem für die Zweite Wiener Schule herauskristallisiert. Sie hat sich zum Beispiel mit dem pianistischen Werk von Arnold Schönberg und mit Orgelkompositionen von Olivier Messiaen befasst, und sie hat sich auch umfassend mit seriellen, dodekaphonischen und modalen Kompositionstechniken auseinandergesetzt. Bis heute ist es – gerade in der Musik – nicht selbstverständlich, dass eine Schülerin schon so früh eine solche Nische für sich entdeckt und sich darin vertieft. Was ist 1985, im Jahr der Uraufführung von Jelineks Burgtheater und dem Erscheinen von Thomas Bernhards Alte Meister, an den Schnittstellen von Literatur und Musik passiert? Ich möchte mit dem Stichwort „experimentell“ beginnen. Die beiden genannten Werke können als neue Formen der Narration und der textlichen Klanganeignung sowie der klanglichen Erfassung von Kunst und Sprache bezeichnet werden. Zu nennen wären darüber hinaus Ernst Jandls 1984 und 1985 gehaltene Frankfurter Poetikvorlesungen Vom Öffnen und Schließen des Mundes. Diese spielerischen Formen des Umgangs mit Klängen und Tönen, die sich verbinden, die etwa in Krebsführungen oder in Umkehrungen wieder auftauchen, entsprechen in der Musik gängigen Kompositionstechniken. Aber auch die Werke von H. C. Artmann sind für Jelineks Burgtheater von Brisanz sowie Friedrich Cerha, der bereits im Jahr 1958 das Ensemble die reihe gründete und sich mit neuen Formen der experimentellen Kunst auseinandersetzte. Cerhas Ensemble war damals eine Ausnahmeerscheinung. Wien war in den Wiederaufbaujahren noch stark von der klassischen Musik beherrscht. Die Rezeption der Zweiten Wiener Schule hat zu jener Zeit noch keine große Rolle gespielt. Cerha hat hingegen damals schon gesagt: „Ich sammle Klänge“. Diese Suche nach neuen Klängen findet sich – übertragen auf die Sprache – in den 1980er Jahren auch bei Elfriede Jelinek wieder. weiterlesen 

aus: Janke, Pia / Kovacs, Teresa / Schenkermayr, Christian (Hg.): Elfriede Jelineks „Burgtheater“ – Eine Herausforderung. Wien: Praesens 2018 (= DISKURSE.KONTEXTE.IMPULSE. Publikationen des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums 18), S. 157-165. 


Till Gerrit Waidelich Studium der Musikwissenschaft, Germanistik und Kunstgeschichte in Berlin, Promotion 2005. Forschungen zur Oper und zu Franz Schubert, Ausstellungskurator, Initiator und Dramaturg einer internationalen Opernproduktion in Wien, Zürich und Berlin. Editor und Autor diverser Dokumenten- und Briefeditionen, u.a. Erstveröffentlichung der Rosamunde von Helmina von Chézy. Forschungsassistent an den Universitäten Tübingen und Salzburg, Lehraufträge an der Universität Wien.

Susana Zapke Studium der Musikwissenschaft und Literaturwissenschaft an der Albert-Ludwig Universität Freiburg i. Breisgau und an der Universität Köln, Habilitation an der Universität Salzburg. Klavierstudium am Conservatorio Superior de Música de San Sebastián und an der Musikhochschule Freiburg i. Breisgau, Kontrabass an der École Nationale de Musique in Bayonne. Seit 2009 Professorin für Musikwissenschaft an der Musik und Kunst Privatuniversität der Stadt Wien sowie Prorektorin. Aktuelle Forschungsschwerpunkte: intellektuelle Referenzsysteme des Fin de siècle und der Imaginerie der Moderne. 


ZITIERWEISE
Waidelich, Till Gerrit / Zapke, Susana: Literarisierung von Musik. Jelineks „Burgtheater“.
/intertextualitaet/burgtheater/ (Datum der Einsichtnahme) (= Elfriede Jelinek und die Musik. Intermediales Wissenschaftsportal des Elfriede Jelinek-Forschungszentrums).